Ich bin normalerweise kein Fan davon, öffentlich meine Gefühle kundzutun. Ich schreibe nun und weiss noch nicht, zu welchem Zwecke, oder ob ich das veröffentlichen will. Ich denke daran, meine Gefühle aufzuschreiben, weil ich oft schreibe, wenn ich Schwierigkeiten habe, wenn ich in einem Verarbeitungsprozess bin. Schon lange wollte ich auch meine Träume dokumentieren, weil ich Dinge träume, die sich so wahr anfühlen, so real. Weil ich mir selbst im Traum sagen kann, dass ich träume. Weil ich in meinen träumen fliegen kann. Weil mir meine Träume Dinge, die am nächsten Tag passieren, provezeihen.
Jetzt gerade erwache ich aus einem Traum von Flori. Ich erwache aus einem Traum, in dem mir eine meiner besten Freundinnen, eine der wichtigsten Personen in meinem Leben vor dem ganzen Team sagt, sie finde es erschreckend, dass ich nicht trauere. Dass ich so drauf bin, wie ich es in diesem Moment bin - laut, grob und unsensibel. Dass ich lache und Witze mache. Ich war schon daran, mich fürs Training fertig anzuziehen, aber in diesem Moment kann ich nicht mehr und drehe komplett durch. Ich sage ihr, sie war doch gar nicht da in diesem ganzen Prozess! Sie hat gar nicht miterlebt, was dies mit mir gemacht habe. Was dies in mir ausgelöst habe.
Schon zwei Stunden vorher bin ich diese Nacht erwacht, und da war Flori anwesend im Traum. Für einen kurzen Moment. Sie war da, und die Freundin, die am Unfallort war, auch. Sie waren beide weinend in der Garderobe, was weitere Weinanfälle bei anderen Spielerinnen ausgelöst hat. Dieser Traum war so kurz, nur einige Sekunden, aber dieser Traum hat die Trauer wieder aktiviert. Ich erwache traurig. Ich erwache verzweifelt, ich schlafe sehr schlecht momentan. Ich will nicht schlafen, weil ich leben will. Ich denke konstant daran, wie schnell es enden kann, dass ich jeden Tag, jede Minute, jeden noch so kleinen Funken des Lebens in mir spüren will. Dass ich mich nicht um unnötige Dinge sorgen will, die nicht lebenswichtig sind. Dass ich mich über nichts mehr aufregen werde, das mit westlichen Luxusproblemen zu tun hat. Dass ich jeden Moment das tue, was ich jetzt gerade will, und mich nicht einschränke, dass ich nicht auf Dinge verzichte, nur weil sie jemand anderen verletzen können. Ich merke aber, dass ich dabei anderen Menschen Schaden zufüge. Ich habe das Leben die letzten Tage und Wochen so stark gefühlt, so intensiv gelebt, dass ich nicht mehr anhalten kann. Ich will leben und das die ganze Zeit, ich will nicht mehr schlafen. Ich will mich nicht ausruhen. Ich will mich nicht mit dem zufrieden geben, was ich habe. Ich will mehr spüren.
Jeden Moment, in dem das Leben in mir so präsent war, habe ich mich daran erinnert, dass sie - Flori - genau dieses Lebensgefühl nicht mehr spüren kann. Dieser Gedanke macht mich unendlich traurig. Nicht, dass sie keine traurigen, verzweifelnden Momente mehr erleben wird, nicht, dass sie nicht mehr glückliche Momente mit anderen Menschen teilen kann, sondern dass sie sich nicht entscheiden konnte dazu, dass sie nichts mehr empfinden wird. Nie wieder. Es ist einfach passiert. Aus dem Nichts.
Das ist der Gedanke, der mich zum weinen bringt, der mich dazu bringt, dass ich immer wieder an sie denke, dass ich die Momente mit ihr teilen will, sie diese Momente spüren lassen will, sie teilhaben lassen will. Floris Geschichte, das Schicksal ihres Lebens und die Erinnerungen an sie haben so viel ausgelöst in mir, und das in so kurzer Zeit. Ich möchte - Flori - mich immer wieder an dich erinnern, mich daran erinnern und dir danken, dass das Leben so wertvoll ist, dass wir dazu Sorge tragen sollen, dass es so wichtig ist, das Leben zu spüren mit all seinen Facetten. Ich weiss, du würdest dir wünschen, dass wir durch deinen Tod nicht aufhören zu leben, sondern erst recht anfangen damit, so banal es auch tönen mag. Leben heisst für mich, jeden Moment präsent zu sein, jeden Moment voll und ganz auskosten zu können, in jedem Moment an nichts anderes zu denken als an das, was ich gerade sehe, höre, rieche und fühle. Lasst uns weitermachen, lasst uns weiterleben, weiterkämpfen für Dinge, die wir wichtig finden und für Menschen wie Flori, die dies nicht mehr tun können!
Ich veröffentliche diese Zeilen, weil ich hoffe, sie können andere Trauernde unterstützen, ihnen Mut machen, dass jeder Mensch unterschiedliche Trauerprozesse durchmacht: Einige zeigen es öffentlich, müssen oft darüber sprechen, andere gar nicht. Einige trauern länger, andere weniger lang. Ich verarbeite Schritt für Schritt den Tod von Flori - dieser Text ist ein weiteres Hilfsmittel, um besser zu verstehen, was dieser Tod mit mir macht und was der Tod ganz allgemein für mich bedeutet. Und vor allem, was das Leben für mich bedeutet und wie sehr ich es liebe, zu leben.
Ich möchte in Zukunft vor allem eines sein: dankbar. Dankbar dafür, dass ich das Leben Tag für Tag, immer aufs Neue spüren darf.
Meret Wälti
London, 23. Juli 2019, 05.02 Uhr morgens.